Rezension:

Moral statt Dogma

Von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Eine All-Religionen-Ökumene war das Ziel der theologischen Überlegungen des Kirchenkritikers Hans Küng. Eine Dissertation kommt zu dem Schluss, dass seine Theologie letztendlich in der Verwässerung mündet. 

Eine deutschsprachige Dissertation (2019) über Hans Küng an der Universität Alba Julia (Karlsburg) in Rumänien liegt nunmehr als Buch vor; der Autor Wolfgang Wünsch ist evangelischer Dorfpfarrer im rumänischen Petersdorf bei Mühlbach (Siebenbürgen), seit 2007 auch Dechant im Kirchenbezirk Mühlbach und selbst mit seiner Frau auf dem Weg zum orthodoxen Glauben. Die Arbeit wurde betreut von dem mit ihm befreundeten orthodoxen Priester und Professor Joan Emil Jurcan, der das Geleitwort verfasste mit dem Titel: „Analyse einer zeitgenössischen theologischen Provokation“. Für die umfängliche Analyse verfügte der Autor auch über die Kenntnis anderer deutschsprachiger und französischer Theologen vor allem aus dem katholischen Raum: so etwa Ratzinger, Bouyer, Balthasar. Es dürfte selten sein, dass Hans Küng aus einem orthodoxen Hintergrund einer so deutlichen Kritik unterzogen wurde.

Die Darstellung gliedert sich erstens in die Vita, zusammen mit der theologischen Entwicklung Küngs, darauf zweitens in eine breite Entfaltung seiner fast das ganze Gebiet der Theologie umfassenden Themen: Trinitätslehre, Christologie, Pneumatologie, Anthropologie, Ekklesiologie, Soteriologie, Kosmologie, Eschatologie und Ethik. Im dritten Teil wird Küngs angestrebte Ökumene der Weltreligionen kritisch dargestellt, wobei exemplarisch Stammesreligionen, Hinduismus, Buddhismus, die chinesische Religion, das Judentum und der Islam in die Untersuchung rücken und letztlich kriterial als Synkretismus unter Verrat der Offenbarung beurteilt werden. Als Ergebnis bleibt: Zugunsten einer gemeinsamen „Weltethik“ opfere Küng die spezifischen Inhalte der Offenbarung, insbesondere die Geschichtlichkeit Jesu und die daraus erwachsene kirchliche Glaubenslehre. In der Pan-Ökumene aller mit allen ersetze Moral das Dogma.

In der Vita Küngs erscheint bemerkenswert: Schon der Schweizer Gymnasiast Hans Küng, geboren 1927 in Sursee, Kanton Luzern, fühlte sich zum Priestertum berufen und erhielt aufgrund seiner Begabung die Erlaubnis, das Theologiestudium sofort am Germanicum in Rom zu beginnen, also an der Begabtenschmiede der deutschsprachigen Theologen. Seine in Paris am Institut Catholique bei Bouyer angefertigte Dissertation von 1957 über Karl Barths Rechtfertigungslehre wurde von Barth selbst gelobt. Sie hatte zum Ziel, die Übereinstimmung der lutherischen Lehre mit der katholischen Auslegung der Rechtfertigung im Konzil von Trient zu zeigen. Allerdings moniert Wünsch bereits die Behauptung Küngs, außer dem Dienst der Priester an den Gemeinden gebe es keinen Unterschied zu den Laien (S. 63). Auch bezieht Küng in einem Basler Vortrag 1959 den Satz von der währenden Reform (semper reformanda) der „Kirche der Sünder“ auf die „sündige Kirche“ selbst (S. 73). Das bedeutet, das Augenmerk von Personen auf Strukturen umzulenken, oder: von der Buße (von Menschen) auf Reformen (der Lehre).

Küng war erstaunlicherweise nicht habilitiert, als er schon zwei Jahre nach der Dissertation 1959 auf die Professur für Fundamentaltheologie an der Universität Tübingen berufen wurde. Der Rottenburger Bischof Carl Joseph Leiprecht ernannte ihn 1962 zu seinem Ratgeber für das II. Vaticanum (S. 86). Der Entzug der Lehrerlaubnis durch Rom im Dezember 1979 beruht auf christologischen Häresien, die unter anderem die Trinität, die Gottessohnschaft und die Jungfräulichkeit Marias betreffen. Die Trinitätslehre sei nach Küng nichts anderes als ein Ausfluss der Hellenisierung des Christentums, also der Durchdringung der Evangelien mit griechischem (philosophischem) Denken. Insgesamt sei Küng an der dauernden (und wechselnden) Rekonstruktion des „historischen Jesus“ hängen geblieben, ohne den Christus des Glaubens einbeziehen zu wollen. Denn das Christentum „verfälscht (…) durch seine Christologie die Gestalt Jesu (…) zu einer exklusiven göttlichen Gestalt (Gottessohn).“ (Küng, Theologie im Aufbruch, 1987, 288)

Das „apostolische Urzeugnis“, auf das Küng sich beruft, werde zugleich mit den „Erfordernissen der Gegenwart“ abgeglichen (S. 119), also mit einem Paradigma ganz anderer Art., nämlich der Vernunft der Moderne. (Dahinter steht der seinerzeitige Entwurf von Thomas S. Kuhn vom Paradigmenwechsel als einer jeweiligen wissenschaftlichen Revolution.) Sofern ein solches Kriterium unabhängig von der Offenbarung überwiegt, kann diese selbst rasch als „veraltetes Paradigma“ entsorgt werden.

Küngs theologisches Feld ist so groß aufgespannt, dass er bis auf Kirchengeschichte und Kirchenrecht alle theologischen Disziplinen behandelt. Allein diese Fülle an Stoff ist schon problematisch, wenn man dazu die „kaum verborgenen Plagiate“ (S. 122) hinzunimmt, die mittlerweile auch bekannt sind. Je länger je mehr zielten Küngs Darlegungen auf eine „Theologie der Weltreligionen“, der sie zu einer gemeinsamen Weltsicht zusammenführen und daraus eine Moral ableiten will. Auch dies gehört zum „neuen Aufbruch“, für den das II. Vaticanum selbst die Vorlage geliefert habe.

Erhellend sind dabei vier Hypothesen, was die „Wahrheit“ der Religion angeht: a) keine Religion ist wahr; b) nur eine Religion ist wahr; c) jede Religion ist wahr; d) eine einzige Religion ist wahr, an der alle Religionen mehr oder minder Anteil haben, aber keine als solche und insgesamt. (S. 124) Die letzte Option ist evident jene Küngs, und er widmet ihr sein Lebenswerk, das im „Weltethos“ gipfelt.

Darin wird auch jener (gerne konstruierte) Atheist einbezogen, der „ein echt menschliches, also humanes und in diesem Sinn moralisches Leben führen (kann)“, nämlich garantiert durch „seine Selbstgesetzgebung und Selbst-Verantwortung für seine Selbst-Verwirklichung und Welt-Gestaltung“ (Küng, Existiert Gott?, 1978, 635). (S. 135) Damit wären Religionen also solche eigentlich überflüssig, wenn sie durch den Kantischen Imperativ ersetzt wären.

Entscheidend für die Untersuchung Wünschs sind die Folgerungen. Die behauptete Übereinstimmung aller Religionen in einer – wenn auch letztlich entzogenen – einzigen Wahrheit (oben unter d) müsste nur aufgedeckt werden. Um diese den Religionen freilich unbewusste Übereinstimmung ans Licht zu bringen, will Küng exemplarisch zeigen, wie das Credo des Christentums in anderen „(Welt-)Religionen „enthalten“ ist.

In einer „Steinbruchmethode“ (S. 201) werden in populärwissenschaftlichen Arbeiten drei große „Stromsysteme“ oder Religionskollektive miteinander abgeglichen: semitische = prophetische Religionen, indische = mystische Religionen und die chinesischen = weisheitlichen Traditionen. Letzteren gilt offenbar sogar eine Vorliebe Küngs.

In methodisch fragwürdigen Versuchen werden solche Überlieferungen zur grobflächigen Übereinstimmung gebracht: zum Beispiel die Trinität mit der Trimurti des Hinduismus oder mit der „taoistischen Dreiheit“ (S. 319). Auch Rituale und Gebetsweisen werden verglichen, wobei das „buddhistische Gebet“ einen Vorteil biete: „Hier finden sie (die Christen) innere Ruhe, größere Gelassenheit, besseres Selbstverständnis, feinere Sensibilität für die ganze Wirklichkeit.“ (Küng u. a., Christentum und Weltreligionen. Hinführung zum Dialog, 1984, 597)

Aus solchen Überblendungen ergibt sich fast zwangsläufig das gesuchte gemeinsame Ethos, ein Minimalkonsens in vier Geboten: nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen, Sexualität nicht missbrauchen (S. 320). Wesentlich also: nicht schaden. In den Hintergrund treten dabei die historischen Stifter von Religionen ebenso wie die historische Ausbildung und Durchführung des beanspruchten Ethos ebenso wie die Frage nach der Motivation zum Guten.

Die Untersuchung von Wolfgang Wünsch zeigt letztlich die völlige Entkernung Jesu Christi in einem derart flächendeckenden ethischen Projekt. Ein „verzerrtes Torso“ (S 322) lässt von der Mitte des Christentums nur noch Bruchstücke übrig, die grundsätzlich auch von anderen Traditionen beigebracht werden könnten. Ortlos und zeitlos, nicht mehr geschichtlich, nicht mehr Mensch-werdend, sondern abstrakt-universal werden religiöse Konzepte über einen Kamm geschoren; ihre Verbindlichkeit muss sich an ihrem gesellschaftlichen Nutzen messen lassen.

Aber das beschworene Minimum „nichts Böses tun“ ist noch lange nicht dasselbe wie „Gutes tun“. Zu schweigen von den anthropologischen Folgen: Ist Erlösung wirklich dasselbe wie Verschwinden ins Nichts? Ist Auferstehung des Fleisches dasselbe wie Wiedergeburt? Ist Atmen wirklich schon Anbeten? Ist die bewundernswerte Abtötung des Schmerzes, deren die Yogis fähig sind, ähnlich der Seligkeit einer Begegnung mit dem lebendigen Gott?

Die Generation, die Hans Küngs dickleibige Bände noch las, ist am Verschwinden, aber seine suggestiven Gedanken wirken deutlich nach. Wünsch zeigt die Verwässerung, die an der Essenz des Christentums vollzogen wurde, in überzeugender Eindringlichkeit. Das Buch leistet den großen Dienst einer theologischen Augenöffnung – spannend zu lesen, eindringlich, gut nachzuvollziehen.

Veröffentlicht am 16.04.2021 auf https://www.bistum-regensburg.de/news/hans-kueng-rueckblick-auf-ein-leben-im-konflikt-mit-der-kirche-8013/