Konstruktion einer eigenen Anthropologie
Sind wir hier nicht an dem Punkt angekommen, an dem sich die Ökumene unter den Christen zeigen muss? Müssen nicht endlich die maßgebenden Vertreter aller christlichen Konfessionen aufstehen und Widerspruch einlegen gegen das, was auf die Menschen zukommt? Müssen sie nicht endlich und konsequent die Botschaft Jesu Christi hinaustragen: Kehrt um, glaubt an das Evangelium, nur so werdet ihr gerettet!
Einige russische Wissenschaftler, die aus dem Umfeld der Orthodoxen Kirche kommen, haben sich dezidiert geäußert. Zum Themenkomplex des „Transhumanismus“ haben sie ein Buch vorgelegt, das im deutschen Verlag „Hagia Sophia“ unter dem Titel Nach dem Menschen[6] erschienen ist. Im Untertitel wird das Vorhaben der Autoren deutlicher, da sie ihre Leser über die Ideologie und Propaganda des Transhumanismus in der Postmoderne aufklären wollen. Denn der Transhumanismus und seine Ideen begegnen uns in vielfältigen Gesichtern.
Als die nächste Stufe und Form der Ideologie des Humanismus ist im vergangenen Jahrhundert der Transhumanismus entstanden. Es waren jene Momente, da von der Gesellschaft, der Politik, aber auch der Kirche, ethische Beschränkungen aufgegeben wurden, „die von der traditionellen (christlichen) Anthropologie geerbt worden waren“. Die „humanistische Selbstbeweihräucherung des Menschen“, so sagt Wassilij A. Schipkow, habe einen „extremen Grad“ erreicht, „der zur Ablehnung jeglicher Normativität im Blick auf das Bild und die Natur des Menschen führte“. Tatsächlich bedeute Transhumanismus „Überschreitung der menschlichen Grenzen“.
Für Professor Schipkow, Direktor des Forschungszentrums „Russische Expertenschule“, zwingt die Ideologie, die den Humanismus in den Transhumanismus umwandelt, die Menschen in Zustände, die nicht mehr menschlich sind. Der Transhumanismus konstruiere seine eigene Anthropologie, also die Lehre vom Menschen, die danach strebe, „eines Tages die gesamte Anthropologie abzuschaffen, den Begriff des Menschen abzuschaffen“.
Hier habe die Bioethik einen großen Einfluss. Sowohl über den Beginn menschlichen Lebens als auch über sein Ende werde weithin philosophiert und geforscht. Zunächst sollen Experimente mit dem menschlichen Genom, den Zellen und Organen, die Lebensqualität verbessern. Dabei sei der Transhumanismus als „eine Variante der Ideologie des Technologismus“, daran interessiert, „zum Nutzen des Menschen“ „zu einem Verständnis von Technik als einem höchsten, heiligen Wert“ zu führen. Mit Hilfe dieser Technik (Elektronik, Computerchips) würden die Menschen immer mehr vereinzelt. Der Sinn der zu erreichenden technologischen „Singularität“ impliziere „das Erreichen des ultimativen Ziels der transhumanistischen Doktrin – biologische Unsterblichkeit“. Die menschliche Natur soll umgestaltet werden. Der Mensch will Gott spielen und noch mehr.
Hier gilt es daran zu erinnern, dass es schon vor Jahrzehnten erste Versuche gab, menschliches Leben dadurch zu „verlängern“, dass lebende Menschen eingefroren wurden. „Kryokonservierung“ nennt die Biotechnik jenes Verfahren, das mit seiner Unsterblichkeits-Rhetorik suggeriert, menschliches Leben könne unbegrenzt verlängert werden. Die Sehnsucht danach, als Mensch gesund länger zu leben, wird heute weltweit, insbesondere in den westlichen Ländern, auf der Bio-Welle propagiert, doch ist dies nur eine Zwischenstation.
Bis ins Unendliche vorangetrieben werden die Gedankenspiele, wenn man betrachtet, dass heute unter dem Begriff „mind uploading“[7] realisiert werden könnte, was uns undenkbar erscheint. Dabei ist „mind uploading“ ein hypothetischer Prozess, durch den mentale Inhalte auf ein externes Medium übertragen werden sollen. Alles zugunsten des Menschen, alles für den Humanismus – oder muss man nicht ehrlicher sagen: alles für die „Transformation des Humanismus in den Transhumanismus“.
„Die Prinzipien des Humanismus (Anthropozentrismus und Negation der Tradition) implizierten von Anfang an das Bestreben des Menschen, totale Macht über sich selbst, über Leben und Tod zu haben und den Menschen auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu einem neuen Wesen mit Superkräften zu entwickeln.“ (W. A. Schipkow)
Zweifellos finden sich Elemente der Ideologie des Transhumanismus längst vor seiner Entstehung in der säkularen Kultur. „Die Ideologie des Transhumanismus zerlegt in Anlehnung an den Humanismus das ganzheitliche Bild des Menschen weiterhin in viele Elemente, Kombinationen von Identitäten, wie Nationalität, Rasse, Alter, politische Ansichten, Engagement für transnationale Marken und Geschlecht.“
Es werden Möglichkeiten angeboten, „Elemente der Identität frei und beliebig zu kombinieren“. Dass dabei ein neues, anderes „soziales Konstrukt“ gestaltet wird und der Mensch dabei seine „Integrität und Subjektivität“ verliert, scheint dabei nebensächlich zu sein. Denn „die Rolle des Menschen als Subjekt wird vom Menschen selbst auf die Elemente seiner Identität verlagert“.
Für die Betreiber der Konsumgesellschaft eröffnet ein solcher „Werte- und Weltbildwandel“ vielfältige neue Möglichkeiten. Der Transhumanismus wird als Chance betrachtet, die „Konsumindustrie quantitativ und qualitativ“ auf ein neues Niveau zu heben. Doch in Wirklichkeit führt er „zur Fragmentierung des Menschenbildes und zur Kommerzialisierung des Prozesses der Selbstidentifikation, indem die menschliche Identität auf das Objekt der Marktbeziehungen reduziert wird und der Hauptgegenstand des Konsums, anstelle von materiellen Objekten und deren Werbebildern, die Elemente der menschlichen Identität selbst werden“.
„Die Wahl zwischen Transhumanismus und traditionellen Werten ist eine ethische, moralische Wahl.“
Religiöse Kreise ihrerseits debattieren derzeit, wie sie auf die Herausforderung des Transhumanismus reagieren sollen. Einige nehmen die Herausforderung des Transhumanismus an. Andere rufen dazu auf, sich dieser aggressiven säkularen Ideologie nicht zu stellen, sich von der Welt abzukapseln und in die Katakomben zu gehen (im direkten und übertragenen Sinn). In diesem Fall müssen sich die Isolationisten nicht nur von denen abgrenzen, die diese Ideologie teilen, sondern auch von der gesamten westlichen Welt, da der Transhumanismus auf dem humanistischen Weltbild basiert, das in der modernen westlichen Zivilisation vorherrscht und die Anfänge des Transhumanismus in sich trägt. Der Versuch einer Isolierung ist in diesem Fall gleichbedeutend mit einer Flucht vor der Realität und einem vorzeitigen Eingeständnis der Niederlage.
Ob und inwieweit die römisch-katholische Kirche für die Herausforderung durch die Bestrebungen des Transhumanismus gewappnet ist, ist noch unklar.
Doch gibt es Anzeichen dafür, dass sie es nicht ist. Offenbar geworden ist dies nicht zuletzt durch das Engagement des Papstes für den Klimaschutz, die Corona-Impfung und die Ernennungen von kirchenfernen Personen als Fachleute in kuriale Institutionen. Zuletzt bekannt geworden ist jene von Jeffrey Sachs[8] zum Mitglied der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften.
Ein Traum und eine Stiftung
Dem „Traum des Papstes von der Geschwisterlichkeit aller Menschen“, den er mit seiner Enzyklika „Fratelli tutti“[9] unter das Volk brachte, entschlüpfte neuerdings eine neue Stiftung, die Kardinal Gambetti vorstellte: „Der Plan war, näher an die alltäglichen Probleme der Menschen heranzukommen, und zwar in einem Geist des Dialogs und der Begegnung. Ein staatsbürgerliches Bewusstsein zu schaffen, einen neuen Humanismus, der sich gegen den Niedergang stemmt. Denn sonst wird die Welt unbewohnbar.“
„Die Stiftung […] ist offen zur Welt. Wir wollen auch andere aus der Gesellschaft, aus der Wirtschaft und den Institutionen gewinnen und mit ihnen zusammen Projekte erarbeiten. Vor allem Bildungsprojekte […] Aus dem Miteinander verschiedener Blickwinkel auf dasselbe Problem soll sich der Umriss einer Lösung abzeichnen, eine Richtung. So dass man zusammen vorangehen kann, statt nur von der Strömung weit weggespült zu werden von den Menschen und von der geschwisterlichen Liebe.“[10]
Am 20. Oktober sprach Gambetti im italienischen Senat in Anwesenheit des italienischen Gesundheitsministers von einem „neuen Humanismus“, der damit verwirklicht werden solle. Er beschwor die Notwendigkeit eines „integralen Humanismus“ und eines „Wörterbuchs des Menschlichen“. Die Worte klingen nebulös und, was immer sie bedeuten mögen, sie erinnern an die Ideen des Transhumanismus. Im Petersdom, der Hauptkirche der Katholiken, würden „Veranstaltungen und Rundgänge“ stattfinden, „Erlebnisse und Momente rund um die Mutter-Basilika der katholischen Kirche“ organisiert, damit „die Verinnerlichung der Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ gefördert würden. „Wir können sehen, dass der Petersdom in eine Art Kulturzentrum umgewandelt wird, in dem natürlich von Zeit zu Zeit eine Messe gelesen wird, aber ohne Übertreibung.“[11]
Prof. Wassilij A. Schipkow. Nach dem Menschen. Ideologie und Propaganda des Transhumanismus; Mit drei Essays von Igumen Vitalij (Utkin), Prof. Alexander Dugin und Wladimir Basenkow: Edition Hagia Sophia 2021.
[1] Robert Kardinal Sarah, Nicolas Dias: Herr bleibe bei uns. Denn es will Abend werden; FE-Medienverlag 2019.
[2] https://www.derstandard.de/story/2000088059066/transhumanist-mensch-ist-nicht-krone-der-schoepfung.
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Stefan_Lorenz_Sorgner.
[4] Stefan Lorenz Sorgner. Transhumanismus: „Die gefährlichste Idee der Welt“!?; Herder 2016.
[5] Klaus Schwab. The Great Reset; deutsch: Corona-19: Der große Umbruch; Forum Publishing 2020.
[6] Prof. Wassilij A. Schipkow. Nach dem Menschen. Ideologie und Propaganda des Transhumanismus; Mit drei Essays von Igumen Vitalij (Utkin), Prof. Alexander Dugin und Wladimir Basenkow: Edition Hagia Sophia 2021.
[7] http://www.minduploading.org/.
[8] Jeffrey Sachs hat sich in seiner Laufbahn immer wieder für Bevölkerungskontrolle durch künstliche Verhütungsmittel eingesetzt. Er tritt außerdem für die Legalisierung der Abtreibung ein.
[9] https://www.dbk.de/themen/enzyklika-fratelli-tutti.
[10] https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2021-10/stiftung-vatikan-fratelli-tutti-gambetti-kardinal-geschwister.html.
[11] Vgl.: https://infovaticana.com/2021/10/22/el-cardenal-gambetti-anuncia-la-creacion-de-la-fundacion-vaticana-fratelli-tutti/; auch: https://infovaticana.com/blogs/specola/rodeados-de-ecotranshumanismo-un-sinodo-de-papel-y-poca-sustancia-escandalos-vaticanos-del-dia-el-poder-del-rosario/; oder: https://infovaticana.com/blogs/specola/la-imposicion-del-transhumanismo-el-papa-francisco-y-las-solteronas-populus-summorum-pontificum-en-vaticano-es-posible-vivir-sin-dios/. Diese Rezension erschien in der Kirchlichen Umschau, 24. Jahrgang, Nr. 11, November 2021