Eine Heilige Russlands 

DIE TAGESPOST

Wie aus Prinzessin Elisabeth von Hessen die Großfürstin Elisaveta Fedorovna wurde, die am 18. Juli 1918 durch die Hand der Schergen Lenins das Martyrium erlitt. 

VON HANS JAKOB BÜRGER

Unter die Schar der heiligen orthodoxen „Neumärtyrer“, die unter der Herrschaft der Sowjet-Kommunisten ihr Leben lassen mussten, wird seit dem 1. November 1981 auch „Elisabeth von Hessen und bei Rhein“ gezahlt. Sie wurde am 1. November 1864 in Darmstadt geboren und war eine Tochter des Großherzogs von Hessen-Darmstadt, Ludwig IV., und seiner Ehefrau Alice, Prinzessin von Großbritannien und Irland. 

Elisabeth war 14 Jahre, als sie ihre Mutter verlor. Obwohl sie viele gute Lehrer in Deutschland hatte, kümmerte sich die Großmutter, die britische Königin Viktoria, um sie und ihre Geschwister. Häufig waren die Enkelkinder der königlichen Großmutter zu langen Besuchen in englischen Schlossern. Wegen ihrer außerordentlichen Schönheit hatte Elisabeth viele Verehrer. Als Ehemann erwählte sie sich Großfürst Sergej Aleksandrovic, den Bruder des Kaisers von Russland, Zar Aleksander III. Beide kannten sich seit frühester Jugend von Verwandtschaftsbesuchen in Darmstadt und heirateten am 15. Juni 1884. 

Der Zar machte seinen Bruder zum Generalgouverneur von Moskau. Von nun an blieb das Schicksal der Großfürstin Elisaveta Fedorovna, wie sie jetzt hieß, untrennbar mit dieser Stadt verbunden. Wie sie es von ihrer Mutter her kannte, kümmerte sich die junge Großfürstin um Bedürftige und sorgte für ihre medizinische und soziale Betreuung. Der Zar entsandte 1888 den Großfürsten Sergej Aleksandrovic als seinen Stellvertreter zur Einweihung der russischen Maria-Magdalenen-Kirche auf dem Ölberg zu Jerusalem. Sergej fühlte sich mit seiner Kirche verbunden. Elisaveta, noch immer dem protestantischen Glauben angehörend, machte diese Reise als Wallfahrt in einem besonderen Anliegen mit. Zwar musste sie als Großfürstin nicht zur orthodoxen Kirche übertreten, doch halte sie inzwischen die orthodoxe Glaubenslehre gründlich studiert. 1890 konvertierte sie. 

kaiserlichen Erlass Elisavetas Stiftung. Am 15. April 1910 überreichte Erzbischof Trifon Elisaveta und mehr als zwanzig jungen Frauen den Schleier. Das Kloster am Südufer der Moskva erhielt zwei Kirchen, ein Krankenhaus, ein Altersheim, ein Waisen- und Gästehaus, sowie ein Haus für die Geistlichen.

In dem Moskauer Stadtteil Chitrovka lebten etwa zwanzigtausend Menschen unter unglaublichen Bedingungen. Elisaveta kümmerte sich um Kinder mit Erbkrankheiten und brachte sie in ihr Krankenhaus. Sie gründete ein Heim für unheilbar Kranke. Ohne Angst vor etwaiger Ansteckung nahm sie selbst die schmutzigsten Arbeiten auf sich. Dabei führte sie ein weitaus strengeres Leben als ihre Mitschwestern. So schlief sie nur wenige Stunden ohne Matratze auf ihrem Brett und besuchte nachts oft das Männerkloster im Kreml, um am Chorgebet teilzunehmen. Das einfache Volk von Moskau dankte der Priorin ihr aufopferungsvolles Leben und brachte ihr grenzenloses Vertrauen entgegen. Es nannte sie Matuska, Mütterchen.

Im April 1918 wurde die Priorin mit Schwester Varvara, genannt Vari, verhaftet. Vorübergehend im Nonnenkloster zu Perm gefangen gehalten, wurden sie am 1. Mai nach Ekaterinburg gebracht und ein paar Tage später nach Alapajevsk.

Die Schwestern wurden zusammen mit anderen Personen des kaiserlichen Hauses in ein Schulhaus eingesperrt. Lenin befürchtete, dass bei einer Befreiung durch die Truppen der Anhänger des Zaren die Mitglieder der „Familie Romanov“ zu „lebenden Bannern“ werden könnten. Am Abend des 18. Juli 1918 kamen Soldaten und forderten die Gefangenen auf, in die wartenden Lastwagen zu steigen. Priorin Elisaveta stimmte das Magnifikat an, und die Gefangenen fielen ein. Die Fahrt führte zu einem verlassenen Grubenschacht wo alle auszusteigen hatten. Nacheinander wurden sie in den Schacht geworfen. Elisaveta kniete am Eingang nieder und betete auf Deutsch mit lauter Stimme: „Du lieber Gott, vergib ihnen, denn sie wissen wirklich nicht, was sie tun!“

Am 1. November 1894 starb Zar Aleksandr III. Wenige Tage danach heiratete sein Sohn und Nachfolger Nikolaj II. Elisabeths Schwester Alix. Sie nahm den Namen Aleksandra Fedorovna an. Nikolaj II. sollte der letzte Kaiser des Russischen Reiches sein. Die Regierung geriet immer mehr unter den Druck von revolutionären Wirren. Elisavetas Mann reichte seinen Rücktritt als Generalgouverneur von Moskau ein. Vorläufig blieb er noch in der Stadt, wohl wissend, dass sein Leben In Gefahr war. Am 17. Februar 1905 wurde er bei der Fahrt zu einer Sitzung durch eine gezielte Bombenexplosion eines linken Sozialrevolutionärs In Stücke gerissen.

Von nun an nahmen Elisavetas Lebensgewohnheiten eine monastische Strenge an. So verbannte sie jeglichen Prunk aus ihrer Umgebung. Sie richtete ein Militärlazarett ein und weitere Krankenhäuser. Oft las sie den Verwundeten und Kranken vor. Ihr Leben bestand aus Gebet und Arbeit. Sie dachte daran, den altchristlichen Stand der Diakonissen zu neuem Leben zu erwecken.

Die Großfürstin strebte nach christlicher Vollkommenheit, die nach der Lehre aller Meister des geistlichen Lebens - im Osten wie im Westen - das Ziel der Frommen ist. Elisaveta studierte alte und neue Ordensregeln darunter die Statuten der Kaiserswerther Diakonissen, Regeln verschiedener anglikanischer Gemeinschaften und der katholischen Kleinen Schwestern der Liebe, sowie die Werke der Heiligen Vinzenz von Paul und Teresa von Avila.

Mit Hilfe einiger ihr gewogenen geistlichen Väter, darunter Metropolit Trifon, entwarf sie eine neue Klosterregel, nach der die künftigen Schwestern leben sollten. Asketische Übungen, wie sie im orthodoxen Klosterleben üblich waren, sowie strenges Fasten und Nachtwachen sollten zugunsten der bedürftigen Mitmenschen reduziert werden. Im März 1910 errichtete Zar Nikolaj durch einen 

Der Mönch Serafim, Prior des Serafim-Klosters von Perm, hielt sich zu jener Zeit in der Gegend auf. Er hörte wimmernde Gesänge. Zusammen mit einigen Soldaten stieg er in den 25 bis 30 Meter liefen Schacht. Die Männer fanden am 9. Oktober die Leiche von Schwester Vari und am 11. Oktober die von Priorin Elisaveta. Die Untersuchungen ergaben, dass die Priorin beim Sturz einen Schädelbruch erlitten hatte. Gestorben ist sie jedoch erst, wie die meisten, an Hunger und Durst. Auf der Brust trug Elisaveta eine edelsteinverzierte Christusikone mit der Inschrift: Palmsonntag, 13. April 1891, die heute in der orthodoxen Kapelle zu Darmstadt aufbewahrt wird.

Vater Serafim, der wusste, dass die Großfürstin das Heilige Land liebte, machte das Gelübde, beide Leichen nach Jerusalem zu bringen. Es war eine abenteuerlichste Reise: Zunächst von Juli 1919 bis April 1920 bis nach Peking. In China wurden die Särge gewechselt und vorläufig auf dem protestantischen Friedhof beigesetzt. Erst später wurden die sterblichen Überreste nach Jerusalem überführt.

Im Januar 1922 wurden die Toten feierlich in einer Grabkapelle der Maria-Magdalena-Kirche auf dem Ölberg von Patriarch Damianos von Jerusalem beigesetzt. Es ist jene Kirche, an deren Einweihung Elisaveta Fedorovna 1888, über dreißig Jahre zuvor, teilgenommen hatte.