Familie – eine untergehende Lebensform

von Beile Ratut

Was Familie ist, steht seit geraumer Zeit unter Beschuss. „Um eine Weltregierung zu erreichen“, so sagte zum Beispiel schon Brock Chisholm, „ist es notwendig, den Individualismus, die Treue zur Familientradition, den nationalen Patriotismus und die religiösen Dogmen aus den Köpfen der Menschen zu entfernen.“ Chisholm war der erste Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Humanist des Jahres 1959 der American Humanist Association.

Die Familie ist die einzige unwillkürlich legitimierte Organisationseinheit der Menschheit; alles andere, ob ein Kegelklub, ein Staat oder die Kirche, braucht eine Legitimation. Ein jeder Mensch hat dagegen einen Vater und eine Mutter (und in der ursprünglichen Form der Großfamilie dann auch noch Großeltern, Onkel, Tanten, Nichten, Neffen, usw.), ein jeder Mensch entstammt also einem ganz bestimmten Mann und einer ganz bestimmten Frau. Das ist so, auch wenn diese Tatsache heute dem Bereich der individuellen Freiheit unterworfen werden soll.

Heute denkt man, der Mensch an und für sich wäre alleine überhaupt erst Mensch. Es braucht keine Familie mehr, nicht einmal Vater und Mutter. Diesem Denken begegnen wir heute überall. Die Dinge sind nicht mehr getragen von einer Idee und nicht mehr Ausdruck von etwas anderem, sondern nur noch sie selbst, allein und aus allen Zusammenhängen, aus Abstammung und Ziel herausgeschnittene Einzeldinge. Wer so denkt, kann natürlich dann auch in Jesus und in den Heiligen nicht Gott sehen, Väter und Mütter schrumpfen zu Gleichen unter Gleichen, die ihre „Rechte“ haben.

Familie, wenn sie noch existiert, ist die beste Form der Gemeinschaft. Damit ist nicht gesagt, dass die konkrete reale Familie gut wäre. Gemeinschaft hat aber auch gar nicht den Zweck, mich selbst glücklich zu machen. Was man selbst fühlt zum Maßstab zu nehmen, kann nie gut ausgehen. Daher kann auch Gemeinschaft nicht zwangsläufig daran gemessen werden, wie ich mich darin fühle. Das Plappern von Gemeinschaft zielt inzwischen jedoch meist auf das Gefühl ab, die Rede von den „vielen Gliedern an einem Leib“, also von der Verschiedenheit, rein weltlich der „Vielfalt“, die heute so in Mode ist, ist nur vorgeschoben und leer. Denn es kommt auf die Art der Gemeinschaft an, in der man lebt.

In einem „Gemeinschaftskörper“ hat jeder seine Aufgabe, der er nachkommt. Am ehesten in der Familie kommen dann noch die persönliche Fürsorge und eine tiefe Verbundenheit hinzu. Wenn man einen Weg findet zu Freundschaft, Verlässlichkeit, Vertrauen und Sich-mögen, dann ist das eine gute Gabe Gottes. Wenn etwas unerfüllt bleibt, so weist auch dieses Unerfüllte auf Gott hin, denn von der Welt und den Menschen darf man nicht die Erfüllung erwarten, sondern besser nur von Gott. Das befreit auch die anderen Menschen von einer großen Last, und natürlich zuerst einen selbst.

In Ehe und Familie ist der Hype des Neuen dann auch schnell vorbei – es ist ja das Neue, das die Leute immerzu ruft. In der Familie gilt: treu abwarten. Das ist natürlich eine Kränkung für das menschliche Ego und eine Unmöglichkeit für den modernen Menschen, für den jenseits des eigenen Ich nichts zu holen ist, ja nicht einmal etwas existiert.

Das Problem mit sich selbst ist aber durch Abwarten allein nicht zu lösen, sondern dadurch, dass man es angeht und einen Weg beschreitet, auf dem man Erfahrungen macht, wie der Kahn in eine gute Richtung auf Gott hin umgelenkt werden kann. Für den Unrat, den jeder in seinem Leben so mit sich bringt, gibt es dabei die Beichte, die uns davon ablöst, Hoffnung macht und hilft, gangbare Wege zu finden. Unsere bürgerliche Vorstellung von „Liebe“ ist dabei eher hinderlich und Ewigkeiten von der Liebe Gottes entfernt.

Familie – eine untergegangene Lebensform: Mit dem Aufkommen der Kleinfamilie ging die Großfamilie unter, sie wurde als asozial verachtet; das Vatersein ging mit dem rituellen Vatermord in Sigmund Freuds Totem und Tabu unter; in den Weltkriegen ging zuerst die Jugend unter und dann die Eltern; in den gleichmachenden 68-Revolten wurden alle Väter vollends in Misskredit gebracht als Nazi-Kollaborateure und abgeworfen für das Heldentum namenloser Fabrikarbeiter, die dann selbst auf den Straßen Ho-Ho-Ho-Chi-Minh! brüllend in der neuen Freiheit untergingen.

Muttersein ist durch die mehr oder weniger organisierten Frauenbewegungen mit ihrer Gleichberechtigung untergegangen, die Nachkriegszeit zeichnete von der Mutter dann ein lächerliches bürgerliches Dienerinnenbild; und die Vergötzung des einen Einzelkinds durch die moderne Mutter als das Kostbarste allen Kostbarsten wird heute nur noch übertrumpft durch den grenzenlosen Hass der Frauen, die abgetrieben haben und sich dieses pubertierende „Recht“ auf sich selbst nicht nehmen lassen wollen.

So sind „Vater“ und „Mutter“ kulturell zu Grabe getragen worden und haben dem Jugend-Herrlichkeitskult der Nazis Platz gemacht, der mit der Idee der linken Gleichheit aller zusammengefügt wurde und im heutigen Jugend-Gesundheits-Unsterblichkeitswahn weiterlebt und nichts mehr fürchtet als den Tod, der mit allen Krankheiten und dem Alter unsichtbar gemacht wird. So müssen wir uns heute die absurdesten Leute ansehen, getrimmte Gesichtszüge, aufgepolsterte Schnuten, Retorten-Muskeln und die von allem Wesentlichen ablenkenden Maximen der Aufmerksamkeits-Schickeria in allen Bereichen der Gesellschaft. Über einen Austausch von Statements geht es selten hinaus. Damit wird deutlich, was wirklich fehlt: Verbundenheit und die damit einhergehende Wirklichkeit, die Bereitschaft zuzuhören, weil man mit den Menschen zusammen sein will, die Bereitschaft, in und mit der Wirklichkeit anderer Menschen zu leben.

Mit der Familie sind die Hierarchie verschwunden und der Ältere, der einem voraus ist, zu dessen Füßen man sich setzt und auf den man hört. „Alte Menschen“ nimmt man nicht mehr wahr, nur noch die Vitalen und Jungen, die wie die Influencer auf Instagram viel zu schnell reden und alle einen Psychiater brauchen und Medikamente gegen ihre Angstattacken nehmen müssen oder die ganz offen drogenverseucht sind. Vater und Mutter aber sind im Jugendwahn untergegangen und mutierten zu jenen Berufsjugendlichen, die mit 80 auch noch supermodern sein müssen und sich dem Diktat des ständig Neuen (Nietzsche) unterworfen haben. Selbst am frisch ausgehobenen Grab wird dann noch gerockt.

Die geistige und geistliche Welt der Kirche ist da erst mal unbekanntes Mittelalter – welch ein Segen! Denn „Mutter“ und „Vater“ sind ja nicht nur Ideen und deren Wirklichkeit in der Familie, sondern auch überfamiliäre geistliche Lebenswelten.

Wenn man aber „unabhängig“ sein will, dann muss man auch die Konsequenzen der Freiheit ertragen: man wird nicht beachtet, die Welt fährt einfach über einen hinweg, in allen sozialen Bereichen außerhalb der Familie ist das so. Das wissen wir von den Mauerblümchen in der Schule, von den Whistleblowern oder von denen, die im Sportunterricht als Letzte gewählt werden, es ist eine typische soziale Verhaltensweise, und wer den Elch mit jagt, bekommt Fleisch ab, wer nicht mitmacht, verhungert. Hauptsache, meine Familie kommt durch. Dieses egoistische Modell wurde eigentlich schon in der Steinzeit durch die wesentlich erfolgreicheren Stammes- oder Dorfgemeinschaften überwunden.

Nun sind wir aber wieder in die asoziale Haltung zurückgefallen, und sie spiegelt sich in unserer Steinzeit-Wirtschaft und auch in unserer Steinzeit-Kultur. Grundthema ist Angst, die Phase der Wagnisse ist vorüber, wir leben nun im Abfall des grenzenlosen Konsums, der Durch-Ökonomisierung von allem und der „neuen Medien“, die pausenlos ihre Leere in uns hineinbrüllen. Dabei verlieren sich jede Form von kultureller Freundlichkeit, Anstand und Mut – wie immer, wenn man zahllosen Verhungernden ein einziges Stück Brot reicht. Man versucht alles, nur um sich selbst zu retten. Dieser sinnlose Wettlauf ist nun auch bei uns in vollem Gange, wir beobachten ganz gewöhnliches Angst-Verhalten im Überlebenskampf. Übrigbleiben werden nur die Starken. Eine Handvoll.

Es gibt aber auch kein Ziel mehr, ganz wie der Witz zur antiautoritären Erziehung: „Frau Lehrerin? Müssen wir jetzt schon wieder spielen, was wir wollen?“ Die Idee in den Dingen ist untergegangen, nichts ist mehr Ausdruck von etwas anderem, sondern nur noch es selbst. Damit hängt auch die Vergötzung des jetzigen Lebens und aller Einzelwesen zusammen. Der größte Feind dieser Unkultur ist der Tod. Er wird mit unseren sterbenden Großeltern, Müttern und Vätern „beseitigt“, um nicht zu stören, und aus den Medien und aller Visualisierung verbannt in die Krankenhäuser und Hospize und auf den Friedhof, der nur noch Asche aufnimmt, keine Leiber mehr – denn Asche erinnert nicht mehr an den Menschen, der stirbt.

Bis zu einem gewissen Grad gibt uns die Familie die Sinnhaftigkeit vor, die nicht im Besitz liegt, sondern im Loslassen, im Säen, ohne zu ernten, im Warten, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren, wie es zum Christsein gehört. Dass man da nicht unreife Früchte erntet und Pflanzen aus Ungeduld aus der Erde zieht, dem dienen das Gebet und die Kirche. Und alles wird „unfertig“ bleiben, eine Art von Torso, der an einigen Stellen nur dank der Gnade Gottes abgerundet werden kann. Darum beten wir und singen, sind nicht traurig und verlieren nicht den Mut. Gott regiert.

Familie – eine untergehende Lebensform