Der Untergang Europas durch die Augen Spenglers und des Heiligen Nikolai von Serbien

Von Prof. Valentin Katasonow

Aus CRISIS 4

Im Jahr 2018 jährte sich zum 100. Mal die Veröffentlichung (des ersten Bandes) von „Der Untergang Europas (des Abendlandes)“ von Oswald Spengler (1880-1936). Der Name dieses deutschen Wissenschaftlers steht in der Reihe jener, die die Grundlagen für das Konzept der Geschichte als Wandel der Zivilisationen gelegt haben. In die gleiche Reihe gehören Nikolai Danilewski (1822–1885) und Konstantin Leontjew (1831–1891), sowie der Engländer Arnold Toynbee (1889–1975).

Spengler bestimmte acht grundlegende Zivilisationen in der Geschichte der Menschheit (die ägyptische, babylonische, indische, chinesische, mexikanische, antike, arabische und europäische). Er tat dies zu einer Zeit, als europäische Historiker, Soziologen, Philosophen die europäische Zivilisation als Krone der Entwicklung der Menschheit betrachteten.

Die Ideen Spenglers erinnern sehr an das, was einige Jahrzehnte vor ihm Konstantin Leontjew schrieb: Eine jede Zivilisation durchläuft Phasen des Werdens, der Blüte und des Welkens. Spengler wiederholt fast wörtlich Leontjew: „Jede Kultur durchläuft die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jeder hat seine Kindheit, seine Jugend, seine Reife und sein Alter.“

Merkmale des Niedergangs der Zivilisation laut Spengler: Die Urbanisierung und Abwanderung der Bevölkerung aus den Dörfern in riesige Städte. Statt sesshafter Lebensweise – eine nomadische. Glaube und Religion sterben. Heroismus und Patriotismus weichen dem Kampf um Macht und Geld. Die Macht des Volkes und der Monarchen wird durch Tyrannei ersetzt. Technik ersetzt den Menschen. Es beginnen Weltkriege. Alle diese Vorzeichen des Niedergangs sah Spengler für alle Zivilisationen voraus. Bis vor nicht langer Zeit, schrieb er, war die europäische Zivilisation im Aufstieg begriffen, aber das 19. Jahrhundert markierte den Beginn ihres Niedergangs. Und der Erste Weltkrieg ließ Spengler nicht im Zweifel darüber, dass die europäische Zivilisation zu Ende geht. In der Geschichte war es immer so, dass, wenn eine Zivilisation sich dem Untergang zuneigte, in der Nähe eine neue geboren wurde. Nach Meinung Spenglers könnte zur neunten großen Zivilisation die erwachende russisch-sibirische Zivilisation, wie er sie nannte, aufsteigen.

Wir sehen, dass 100 Jahre nach Erscheinen von Spenglers Buch Europa schwerste Prüfungen durchlebte, aber ungeachtet dessen besteht es fort. Gibt es vielleicht gar keinen „Untergang Europas“? Hat vielleicht Spengler einfach übertrieben? Ich gebe zu, noch vor wenigen Jahren hatte ich solche Zweifel. Doch heute besteht kein Zweifel. Erstens entwickeln sich in Europa Prozesse (Schuldenkrise, Immigration, Austritt Großbritanniens aus der EU u.a.), in welchen die Europäische Union in ihrer heutigen Gestalt sterben wird. Und so ergibt sich sehr schnell die Perspektive der Umwandlung Europas in einen „multikulturellen Raum“, in welchem die Merkmale der europäischen Zivilisation schon nicht mehr auffindbar sein werden. Zweitens stütze ich mich in meinem Urteil auf die Werke des Nikolai von Serbien (1880–1956) – Bischof Nikolai (Velimirović) von Ohrid und Žiča, den die Serbische Orthodoxe Kirche im Jahr 2003 verherrlichte. Er kannte Europa sehr gut, und die Diagnose, welche er für es hatte, ähnelte sehr der Diagnose Spenglers.

Ich werde einige Auszüge aus den Werken des Nikolai (Velimirović) mitteilen, welche aus meiner Sicht zu einem besseren Verständnis der heutigen Situation in Europa und ihrer Perspektive beitragen.

In einem Vortrag, den Nikolai (Velimirović) in der Londoner St. Paul’s Cathedral am 16. Dezember 1919 vor Mitgliedern des Königshauses hielt, machte er eine sehr entschiedene und wagemutige Aussage: „Meine These ist einfach und klar. Europa ist schon nicht mehr Zentrum und Mittelpunkt der Weltzivilisation, welche auf der Grundlage des christlichen Glaubens in mehr als neunzehn Jahrhunderten errichtet wurde. Im 18. Jahrhundert hörte Europa auf, im Zentrum der progressivsten Weltzivilisation zu stehen. Es schleppt sich jetzt, schwankend und stolpernd, am äußersten Rand des Abgrunds, welcher es tödlich bedroht, entlang, klammert sich gierig mal an die einen, mal an die anderen veränderlichen Werte.“

„Es ist offensichtlich, dass die europäischen Völker die geistige Stütze ihres Daseins verloren haben. Mit anderen Worten, die treibende Kraft, die Zivilisation begründet, wurde zerstört. Und wenn wir folglich von wirklichem Fortschritt sprechen, kann das heutige Europa nur für wüstes Land gehalten werden.“

Der künftige Heilige richtet die Aufmerksamkeit darauf, dass wirklicher Fortschritt, verstanden als geistiges Wachstum, ersetzt wird durch Surrogate, welche bezeichnet werden als wissenschaftlicher, technischer, ökonomischer, materieller Fortschritt. „Aber durch materiellen Fortschritt kann die Welt nur verführt werden. Es ist doch völlig klar, dass in der Geschichte der Menschheit keine einzige Zivilisation wegen Brotmangels untergegangen ist, – alle Reiche starben an geistigem Hunger. Das geistige Leben der europäischen Völker unserer Zeit ist dürftig und jämmerlich.“

Der Heilige bezeichnet als Wendepunkt in der Geschichte Europas das 18. Jahrhundert, als die französischen „Aufklärer“ der christlichen Religion einen mächtigen Schlag versetzten. Danach wurde der Atheismus unter der „aufgeklärten“ europäischen Elite zur Norm. Noch weitaus schwerere Schläge wurden der europäischen Zivilisation im 19. Jahrhundert versetzt. Es ereigneten sich drei „wissenschaftliche Revolutionen“, welche das Bewusstsein umstülpten. Nikolai (Velimirović) schreibt darüber in der Zeitschrift „Christliches Denken“ im Jahr 1939: „Drei verhängnisvolle Geister der europäischen Zivilisation sind Darwin, Nietzsche und Marx. Darwin ist der Vertreter einer fatalen naturwissenschaftlichen Theorie. Nietzsche der Vertreter einer fatalen ethischen Theorie. Marx der Vertreter einer fatalen sozialen Theorie … Gewöhnliche Leute, bei denen das Herz noch als Prüfer und Hüter der Wahrheit auftritt, empfanden diese drei Theorien als gefährliche Phantasien. Eine große Anzahl europäischer Intellektueller jedoch, bei denen die Kraft des Herzens unterdrückt war, die Wahrheit noch zu fassen, rechneten diese Theorien allen Ernstes zu den großen Offenbarungen. In unseren Tagen beobachten wir deutlich, dass das Herz des Volkes recht hatte und der Verstand der Intellektuellen sich als kurzsichtiger Richter erwies. So kommen doch gerade jetzt die bitteren und schicksalsträchtigen Früchte dieser Theorien zum Vorschein, durch welche die europäische Zivilisation in dichte und schwere Finsternis gehüllt ist, und die ganze Welt sich am Rande des Abgrundes, der Barbarei und des Todes befindet.“

Ich merke an, dass diese Worte im September 1939 geäußert wurden, als in Europa der Zweite Weltkrieg begann. Zudem hebt der Hierarch von den drei „wissenschaftlichen“ Theorien, welche für Europa verhängnisvoll wurden, besonders den Darwinismus hervor. Darwin ist der geistige Vater des Philosophen Nietzsche und des Soziologen Marx. Er verkündete eine neue biologische Wissenschaft, welche hauptsächlich in drei Thesen ihren Ausdruck fand: Evolution, Kampf ums Dasein, Überleben der am besten Angepassten. Sowohl im Kosmos als auch im gesamten Universum überhaupt, wie es sich Darwin und noch deutlicher seine Nachfolger vorstellten, sind alle möglichen Kräfte und Faktoren vorhanden, mit Ausnahme von Gott, Geist und Moral. Auf diese ausgedachte Abwesenheit von Gott, Geist und Moral in der Theorie Darwins gründete Nietzsche dann seine antiethische Ethik und Marx seine kommunistische Soziologie. Deshalb ist Ausgangspunkt und erster Artikel der Lehre von Nietzsche und Marx: die Verneinung der Existenz Gottes.

Bis zum heutigen Tag wurden sowohl in Europa als auch in der ganzen Welt das Nietzscheanertum und der Marxismus viele Male der Kritik unterworfen. Der Darwinismus jedoch bleibt weiterhin im Schatten. Mehr noch, verschiedene soziologische Untersuchungen erweisen, dass diese Lehre heute in vielen Ländern dominant geworden ist. Eine Mehrheit von Menschen glaubt wirklich an ihre Abstammung vom Affen, an die „natürliche Auslese“ als „Triebkraft des Prozesses“.

Von all dem, was Nikolai (Velimirović) über die europäische Zivilisation schrieb, ruft wohl nur eine seiner Thesen bei mir Zweifel hervor. Der Hierarch nahm an, dass alle drei der oben genannten „wissenschaftlichen Theorien“, welche der Menschheit ungezählte Leiden brachten, dem Tode geweiht seien. Dabei müsse zuerst die Lehre Darwins sterben, die Wurzel des Bösen, und dann das Nietzscheanertum und der Marxismus, als zwei Triebe aus dieser Wurzel. „Gibt es Hoffnung darauf, dass dieses beispiellose Feuer zum Stillstand kommt?“, fragt der Hierarch mit Blick auf den beginnenden großen Krieg und den möglichen Untergang Europas. Und er antwortet: „Ja, der Vater dieser beiden Zwillinge liegt im Sterben. Der Darwinismus liegt auf dem Sterbebett. Die neueste Wissenschaft, sowohl die englische als auch die deutsche und französische – aber vor allem die englische – begraben in unseren Tagen die Theorie Darwins als Leiche. Oh weh, das kommt leider nach der ungeheuren Verwüstung, welche sie einer ganzen Reihe von Generationen hinterließ, und nach dichter Finsternis, welche sie in die Welt hineintrug!“

Im Leben jedoch kam es anders. Schon nach dem Tod des Hierarchen gab es viele erfolglose Versuche, die „zwei Triebe“ auszureißen, aber der Darwinismus als Wurzel blieb, setzte sich im Bewusstsein fest. Ungeachtet dessen, dass der Darwinismus jede Ähnlichkeit mit Wissenschaft verloren hat, ist er heute in reiner Form eine Ideologie, deren Existenz in keiner Weise von naturwissenschaftlichen Argumenten abhängt.

Was die Triebe aus der Wurzel des Darwinismus in Form von Nietzscheanertum und Marxismus angeht, so scheinen sie gestutzt worden zu sein. Doch können sie erstens jederzeit wieder zu wachsen beginnen. Zweitens können aus der verbleibenden Wurzel des Darwinismus neue Äste und Zweige erscheinen. Und sie treten bereits hervor. So erscheint zum Beispiel zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Spross in Form der Lehre des Transhumanismus, welche ein völlige Transformation des Menschen plant, seine Umwandlung in einen Cyborg. Transhumanismus wäre ohne Darwinismus kaum möglich gewesen. Der Übermensch Nietzsches, das ist bloß des Darwinismus‘ „Blüte“, doch der Cyborg jetzt, das ist bereits die „Frucht“. Es erschien auch die Theorie der post-industriellen Gesellschaft, welche das kommunistische soziale Ideal ablöst. Heute wird diese Theorie in die Theorie der „digitalen Gesellschaft“ transformiert. Der Kommunismus von Marx, das ist bloß des Darwinismus „Blüte“, jedoch die „digitale Gesellschaft“ („das elektronische Konzentrationslager“), das ist bereits die „Frucht“.

Der Hierarch Nikolai (Velimirović) verstand sehr gut, dass die drei „wissenschaftlichen Theorien“, besonders der Darwinismus, Europa zu zerstören vermögen, und nur das Christentum ihnen widerstehen kann. „Von Europa aus wirken bis jetzt vier ideelle Kräfte, die sich über den ganzen irdischen Globus ausbreiten. Drei von ihnen sind negativ und todbringend, und nur eine ist positiv und rettend. Negativ sind die Pseudo-Wissenschaft, die Pseudo-Ethik sowie die Pseudo-Soziologie, welche ursprünglich in drei bekannten Gestalten ihren Ausdruck fanden: bei Darwin, bei Nietzsche und bei Marx. Nur das Christentum ist eine positive und rettende Kraft, menschlich und gütig.“

Der Untergang Europas durch die Augen Spenglers und des Heiligen Nikolai von Serbien