Der Katechon, die sakrale Wurzel der Monarchie und das Ende  der westlichen Zivilisation

Von Benjamin Kaiser

Sei es der Ukraine-Krieg, die Corona-Impfung oder die Gleichstellung von Queer- und Trans-Personen. Es ist heute nicht nur viel von „westlichen Werten“ die Rede, sondern es hat den Anschein, als habe der Begriff des „Wertes“, der im 19. Jahrhundert dem Handel mit Werten an der Börse entlehnt wurde, die Moral fast gänzlich ersetzt. Dieser Tauschhandel hatte seinen Preis.

Der Katechon

Dass der universelle Geltungsanspruch, der für westliche Werte in der Welt erhoben wird, gleichzeitig den Untergang des Westens selbst eingeleitet hat, bedarf heute keiner großen Erläuterung mehr. Es reicht das Betreten eines sakralen Raumes, einer der großen Kathedralen und Kirchen des Westens, um zu sehen, dass der Platz, den einst der Erlöser dort einnahm, längst durch die Regenbogenfahne, als Symbol für das westliche Heraustreten aus der durch Gott gegebenen Ordnung und Moral, ersetzt wurde.

Moral und Werte sind also im Westen in ihr Gegenteil verkehrt worden. Der Religion wurde die Moral genommen, so dass sie letztlich zum Schweigen gekommen ist, und die Politik wurde moralisiert, sprich, politisches Abwägen durch hypermoralische Schwarz-Weiß-Malerei ersetzt, so dass die Berechtigung zur Teilhabe am politischen Diskurs davon abhängt, ob ich die richtigen Werte vertrete, nicht jedoch, ob ich den nötigen politischen Sachverstand besitze. 

Arnold Gehlen beschrieb diese schöne, neue Welt, in der wir Westler als Geiseln der Lüge leben, bereits 1969 in Moral und Hypermoral:

„Teuflisch ist, wer das Reich der Lüge aufrichtet und andere Menschen zwingt, in ihm zu leben.“

In Anbetracht der zumindest in Deutschland immer noch schwelenden Pandemieerzählung, wirken diese Sätze fast schon prophetisch. Diese Welt der Lüge ist, wie Arnold Gehlen ausführt, das sich ausbreitende Reich des Antichristen. 

Doch was ist der Antichrist? Grundsätzlich existieren hier zwei unterschiedliche Konzepte. Zum einen hat der Antichrist ein geistiges, immaterielles Gesicht, trägt sozusagen eine Maske, so dass der Westen von einem Fieberwahn befallen zu sein scheint, der einer Besessenheit gleicht, da er trotz des nach innen hin betriebenen Selbstmords, nach außen hin von „Gleichstellung“, „Selbstbestimmung“, „Verantwortung“ und „Toleranz“ spricht. Denn wie Arnold Gehlen schrieb, ist es ein wesentliches Kennzeichen des Antichristen, dass diese Maske wiederum dem Antlitz des Erlösers ähnelt, also den Anschein von moralischer Integrität zu erwecken sucht: Wir im Westen, mit unseren Werten, wir sind die Guten.

Um sich das Maskenhafte der westlichen Werte einmal vor Augen zu führen, sei folgende Entschlüsselung erlaubt: 

„Selbstbestimmung“ heißt übersetzt, in Deutschland jährlich einhunderttausend unschuldige Kinder aus nichtigen Gründen im Mutterleib zu töten.

„Verantwortung“ heißt übersetzt, aus Angst vor einem Schnupfen alle Mitglieder der Gesellschaft in Geiselhaft zu halten und zur Injektion genmanipulierender Impfstoffe zu nötigen.

„Toleranz“ heißt, Andersdenkende massiv auszugrenzen und traditionelle Christen zu kriminalisieren, wenn sie nicht bereit sind, z. B. das Konzept sexueller Vielfalt zu teilen.

Diese Travestie findet sich auch in den Worten des Journalis-ten Alan Posener wieder, der das aktuelle Westeuropa und Nordamerika als Höhepunkt der Menschheitsgeschichte im Januar 2010 in der Jüdischen Allgemeinen beschreibt:

„‘was den Westen bei aller Unzulänglichkeit zur liebens- und lebenswertesten Gesellschaft macht, die unser Planet bislang gekannt hat‘: Demokratie und Massenwohlstand, Aufklärung und Wissenschaft, Gleichstellung der Frau und sexuelle Selbstbestimmung.“

Diesem Beinahe-Paradies der westlichen Welt stehen die Feinde der westlichen Werte gegenüber, die aufs schärfste bekämpft werden müssen. Oder wie dies die Journalistin Gesine Dornblüth im Juli 2022 im ARD Presseclub in Bezug auf ein mögliches militärisches Eingreifen gegen Russland formulierte:

„Selbst wenn Putin geht, bleibt der Chauvinismus der russischen Gesellschaft ein Problem. Russland muss eine Niederlage erfahren, die es selbst als solche wahrnimmt.“

Die westlichen Werte sind also aus Sicht ihrer Vertreter genau so wenig verhandelbar, wie die christliche Moral für den Gläubigen, nur dass der Christ angehalten ist, die Moral vor allem auf sich selbst anzuwenden, er die Gebote möglichst für sein eigenes Leben zum Maßstab nehmen sollte und aufgefordert ist, zwar an einer christlichen Gesellschaft zu arbeiten, aber eben nicht andere moralisch zu richten. Im Gegenzug wird für die westlichen Werte die globale, politische Durchsetzung gefordert, während die gleichen westlichen Werte im persönlichen Leben, mit Ausnahme vielleicht des Veganismus, so gut wie keine Rolle spielen. Apologeten der westlichen Werte sind also Verkünder einer neuen, politisch von oben durchzusetzenden „Heilslehre“, die durchaus als antichristlich bezeichnet werden kann, vor allem, da sie die christliche Moral und die Zehn Gebote in vieler Hinsicht ablehnt und daher dem geistigen Konzept des Antichristen entspricht.

Im Gegensatz zu diesem geistigen Konzept wird der Antichrist in der kirchlichen Tradition sowohl des Westens als auch des Ostens in der Regel als konkrete Person verstanden, deren Herrschaft der endzeitlichen Wiederkehr Christi vorausgeht. Ein entscheidender Text in diesem Zusammenhang ist der 2. Brief an die Thessalonicher 2,1–12:

„Was aber das Kommen unseres Herrn Jesus Christus angeht und unsre Versammlung bei ihm, so bitten wir euch, dass ihr nicht so schnell wankend werdet in eurem Sinn und dass ihr euch nicht erschrecken lasst, weder durch eine Weissagung noch durch ein Wort noch durch einen Brief, die von uns sein sollen und behaupten, der Tag des Herrn sei schon da. Lasst euch von niemandem verführen, in keinerlei Weise; denn zuvor muss der Abfall kommen und der Mensch des Frevels [Antichrist] offenbart werden, der Sohn des Verderbens. Er ist der Widersacher, der sich erhebt über alles, was Gott oder Heiligtum heißt, sodass er sich in den Tempel Gottes setzt und vorgibt, er sei Gott. Erinnert ihr euch nicht, dass ich euch dies sagte, als ich noch bei euch war?“ 

Und nun kommt die entscheidende Stelle, die in Bezug auf Staat, Kirche und die Naherwartung der Urchristen entscheidend ist:

„Und jetzt wisst ihr, was ihn noch aufhält, bis er offenbart wird zu seiner Zeit. Denn das Geheimnis des Frevels ist bereits wirksam; nur muss der, der es jetzt aufhält (der Katechon), erst hinweggetan werden;“

(„καὶ νῦν τὸ κατέχον οἴδατε, εἰς τὸ ἀποκαλυφθῆναι αὐτὸν ἐν τῷ ἑαυτοῦ καιρῷ. τὸ γὰρ µυστήριον ἤδη ἐνεργεῖται τῆς ἀνοµίας: µόνον ὁ κατέχων ἄρτι ἕως ἐκ µέσου γένηται.“)

Der hier genannte Katechon ist ein griechisches Partizip, das bei der zweiten Nennung im Nominativ maskulin steht und als „der Aufhalter“ des Antichristen verstanden wird. Was also seit zweitausend Jahren das Reich des Antichristen aufgehalten hat, ist dieser Deutung nach der Katechon, der unsere historische Existenz erst möglich machte, indem er den Antichristen immer wieder daran hinderte, sein Reich der Lüge vollständig zu errichten. 

Gleichzeitig verhindert der Katechon jedoch, und das macht seine Ambivalenz aus, indem er den Antichristen aufhält, auch die Wiederkunft Christi und damit unsere endzeitliche Erlösung. Denn erst wenn der Katechon hinweg ist, kann das Reich Gottes sich vollständig erfüllen und Jesus Christus den Antichristen vernichten.

Weiter heißt es bei Paulus für die Zeit, nachdem der Katechon hinweggetan wurde:

„und dann wird der Frevler offenbart werden. Ihn wird der Herr Jesus töten mit dem Hauch seines Mundes und wird ihm ein Ende machen durch seine Erscheinung, wenn er kommt. Der Frevler aber wird kommen durch das Wirken des Satans mit großer Kraft und lügenhaften Zeichen und Wundern und mit jeglicher Verführung zur Ungerechtigkeit bei denen, die verloren werden. Denn sie haben die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen, dass sie gerettet würden. Und darum sendet ihnen Gott die Macht der Verführung, dass sie der Lüge glauben, auf dass gerichtet werden alle, die der Wahrheit nicht glaubten, sondern Lust hatten an der Ungerechtigkeit.“

Der Katechon, der Aufhalter des Bösen steht also – und das ist Gottes Wille – auf verlorenem Posten. Er soll als Christ das Böse aufhalten und für die Ordnung eintreten und kämpft dabei einen Kampf, den er schon verloren hat, bevor er überhaupt anfing.

Wenn aber heute der westlich-universalistische Weltstaat ein Werk des Antichristen ist, da er uns ein irdisches Paradies verspricht, obwohl die Erlösung einzig und allein durch Gott kommen kann, dann ist es Aufgabe des Katechons, gegen diesen Kult der Erlösung durch westliche Werte zu kämpfen und das Heraufkommen des Reichs des Bösen möglichst lange hinauszuschieben.

Zwar lässt uns Paulus im Dunkeln darüber, wer nun genau dieser Katechon ist, aber es scheint schon früh – und im Laufe der Kirchengeschichte verstärkte sich dies – die Interpretation vorzuherrschen, dass den christlichen Königen und Kaisern eine sakrale Kraft innezuwohnen schien, die sich den Mächten des Chaos und der Zerstörung entgegenstellte.

Ein politisches Gebilde, dessen Vertretern diese Kraft zugesprochen wurde, war das Heilige Römische Reich. Nicht wenige deutsche Kaiser wurden als Aufhalter des Antichristen begriffen, und der deutsche Reichsgedanke nahm in seiner Vielschichtigkeit zwischen kommendem Gottesreich und irdischer Macht seinen Anfang, so sehr er auch im 20. Jahrhundert missbraucht worden ist.

Heiliges Römisches Reich

Wenn also, wie Carl Schmitt schreibt, der Katechon sich in einem weltlichen Herrscher offenbaren kann und dieses Prinzip in den letzten zweitausend Jahren seit Christus sich in dem einen oder anderen König und Kaiser zeigte, dann ist vielleicht eine kleine Spurensuche nach der sakralen Wurzel dieser irdischen Herrscher sinnvoll.

„Ich glaube an den Katechon: er ist für mich die einzige Möglichkeit, als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu finden.“ schrieb Carl Schmitt am 19. Dezember 1947 in sein Tagebuch „Man muß für jede Epoche der letzten 1.948 Jahre den Katechon nennen können. Der Platz war niemals unbesetzt, sonst wären wir nicht mehr vorhanden.“ Für Schmitt war der Platz des Katechons sehr oft mit einem deutschen Kaiser besetzt. 

Werfen wir einmal einen Blick auf die Reichsinsignien, um zu zeigen, wie schon in den scheinbar rein äußerlichen Zeichen der Macht sich die Verbundenheit des Herrschers mit dem Erlöser zeigte. Die Heilige Lanze ist das älteste Stück unter den Reichskleinodien. Doch ist dies eben nicht nur eine Lanze, wie der moderne Mensch glauben könnte, sondern sie gehörte einer Quelle zufolge entweder dem römischen Hauptmann Longinus, der hiermit dem toten Erlöser am Kreuz in die Seite stach, so dass sie mit dessen heiligem Leib und Blut in Berührung kam – oder sie wurde – nach einer anderen Quelle – aus einem Nagel des Kreuzes Christi gefertigt.

Auch hier ist wieder die Ambivalenz des Katechon zu erkennen, der die Lanze, die den Herrn verwundete, als Zeichen seiner Macht zur Schau stellt.

Frankreich

Ähnlich, wie im Heiligen Römischen Reich, war auch für die französischen Könige die Verwurzelung im Sakralen entscheidend. So erwarb Ludwig IX im Jahr 1239 die Dornenkrone Jesu, für deren Aufbewahrung er Saint-Chapelle bauen ließ. Mit dem Erwerb der Dornenkrone sah sich Ludwig als Nachfolger König Salomos. Paris betrachtete er als „neues Jerusalem“, das die heilvolle Reliquie – und nach heutigem Kenntnisstand höchstwahrscheinlich authentische Dornenkrone – bis zum Jüngsten Tag aufbewahren sollte. Nach der französischen Revolution wurde die Reliquie nach Paris zurückgebracht und befand sich bis zum Brand 2019 in der Kathedrale Notre Dame.

Weiteres Indiz für die sakrale Wurzel des Königtums ist die Königssalbung. Nach Vorbild der biblischen Könige galt seit dem Mittelalter die Salbung der Könige noch vor der Krönung als entscheidender Weiheakt zur Königserhebung. Zur Salbung der französischen Könige wurde in der Kathedrale von Reims bis zur Französischen Revolution die Heilige Ampulle aufbewahrt, eine Phiole mit Salböl, die der Legende zufolge von einer Taube bei der Taufe Königs Chlodwig I. im Jahr 496 oder 499 vom Himmel herab auf die Erde gebracht wurde und die bei der Französischen Revolution, im Rahmen eines öffentlichen Spektakels, absichtsvoll zerstört wurde, um die Wiederkehr der Könige für immer zu verhindern.

England

Die einzige heute noch übliche Königssalbung findet bei der Krönung des englischen Königs statt. Die Krönungsliturgie sieht auch hier eine Salbung mit geweihtem Öl noch vor dem Überreichen der Herrscherinsignien und dem Aufsetzen der Krone vor. 1953, bei der Krönung Elisabeths II. galt diese Zeremonie immer noch als so heilig, dass diese nicht im Fernsehen übertragen wurde.

Vollends in Erstaunen mag es den materialistisch geprägten Westler versetzen, dass die Menschen früherer Jahrhunderte den gesalbten Königen heilende Kräfte zusprachen. So wurde den englischen und französischen Königen nachgesagt, durch göttliche Gnade an Skrofeln erkrankte Menschen durch Handauflegen zu heilen: „Der König berührt dich, Gott heilt dich“, sprachen die französischen Könige, wie Marc Bloch in Die wundertätigen Könige ausführt.

Dieses Ritual der Krankenheilung durch den König wurde in England bis ins 18. Jahrhundert, in Frankreich bis zum Jahr 1825 ausgeübt. Karl X. war entsprechend der letzte französische König, der das Ritual der Krankenheilung ausführte. 

Doch macht diese sakrale Wurzel der Monarchie den Herrscher noch zu keinem Verteidiger des Glaubens. Exemplarisch sei der Fall des englischen Königs Heinrich VIII. genannt, dem 1521 von Papst Leo X. als erstem englischen König der Titel Fidei Defensor (Verteidiger des Glaubens) verliehen wurde. Als der Tudorkönig wenig später mit Rom brach und sich selbst zum Oberhaupt der Church of England machte, wurde ihm der Titel 1530 von Papst Paul III. zwar wieder aberkannt, dies hinderte die englische Krone jedoch nicht daran, bis heute diesen Titel als ein „FD“ in jede englische Münze zu prägen.

Ist jedoch die sakrale Wurzel der Monarchie in England noch als solche vorhanden? Bei dem neuen englischen Staatsoberhaupt, dem Prinzen von Wales, ist überhaupt nichts mehr von seiner Rolle als Fidei Defensor zu lesen. Ganz im Gegenteil vertrat er als Princeps Walliae, als Oberhaupt der Waliser nur noch die universalistischen Prinzipien der globalen, neuen Weltordnung. Für das Thema Glauben reichte dem König und Oberhaupt der englischen Staatskirche auf seiner offiziellen Webseite ein Stichpunkt:

„Promoting tolerance and greater understanding between different faiths and communities“

Anstelle des Glaubens geht es um Toleranz. 

Russland

Am Westportal der Westminster Abbey finden sich zehn Statuen moderner Märtyrer, die während der zahlreichen Christenverfolgungen des 20. Jahrhunderts ums Leben kamen. Neben dem polnischen Priester Maximilian Kolbe und dem evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, die beide durch die Nationalsozialisten ermordet wurden, findet sich auch ein Mitglied der Zarenfamilie, die Großfürstin Elisabeth von Russland, geborene von Hessen-Darmstadt. Ihr Leben war ein letztes Aufbäumen vor dem Untergang des Zarenreichs, ein Zeichen, dass das, was politisch über uns hereinbrechen wird, nicht endgültig aufzuhalten ist und auch Zeugnis, dass die gefallene Welt ihren eigenen Untergang herbeisehnt.

Am 4. Februar 1905 explodierte im Kreml nahe dem Nikolaus-Tor eine Bombe, die den Großfürsten Sergei Alexandrowitsch Romanow, tötete. Nachdem seine Frau, die Großfürstin Elisabeth fünf Tage im Gebet verbracht hatte, traf sie eine überraschende Entscheidung. Wie Olga Barkowez, Fjodor Fedorow und Alexander Krylow in ihrem Buch „Peterhof ist ein Traum...“. Deutsche Prinzessinnen in Russland, ausführen, ließ sie sich ins Gefängnis zu Iwan Kaljajew, dem Mörder ihres Mannes bringen.

„In der Zelle des Mörders frage sie: ‚Warum haben Sie meinen Mann ermordet? Warum haben Sie Ihr Gewissen mit diesem schrecklichen Verbrechen belastet?‘ […]

‚Ich habe Sergej Alexandrowitsch ermordet, […] weil er ein Werkzeug der Tyrannei und ein Unterdrücker der Arbeiter war.‘“

Weiter bezeichnete sich der Mörder als Rächer des Volkes, Sozialist und Revolutionär. Die Großfürstin antwortete:

„Ihr irrt, mein Mann liebte das Volk und dachte nur an dessen Wohl. Daher ist Euer Verbrechen nicht gerechtfertigt. Lasst ab von Eurem Hochmut und bereut. Wenn Ihr bereut, werde ich den Herrscher bitten, Euch das Leben zu schenken, und zu Gott beten, dass er Euch ebenso verzeiht, wie ich Euch verziehen habe.“

Doch der Attentäter wollte sich nicht retten lassen:

„‚Nein ich bereue nicht. Ich muss für die Sache sterben - und ich werde sterben.‘ -

‚Wenn dem so ist, dann nehmt Ihr mir jede Möglichkeit, Euer Leben zu retten. Wenn Ihr dann bald vor Gott stehen werdet, so verhaltet euch doch so, dass ich zumindest Eure Seele retten kann. Hier ist ein Evangelium, versprecht mir, es aufmerksam bis zu Eurer Todesstunde zu lesen.“

Als sich Kaljajew weigerte, das Evangelium zu lesen, ließ die Großfürstin das Buch dennoch in der Zelle auf dem Tisch liegen und bat den Zaren um Begnadigung des Mörders ihres Mannes. Überraschend stimmte Nikolas II. zu und schickte einen Beauftragten in die Zelle, doch Kaljajew lehnte die Begnadigung erneut kategorisch ab:

„‚Nein, ich will für meine Sache sterben.“

Das Attentat führte zu einer Wende im Leben der Großfürstin. Nach dem Trauerjahr verschenkte sie ihren ganzen Besitz und gründete das Martha-Maria-Kloster der Barmherzigkeit. 

Am dritten Tag der Osterwoche 1918 wurde Elisabeth von den Bolschewisten verhaftet und nach Alapaevsk nördlich von Ekaterinburg gebracht. Einen Tag nach der Ermordung Nikolaus II. und seiner Familie wurde sie mit anderen Angehörigen des Zaren zu stillgelegten Grubenschächten geführt. Über die Öffnung einer der Schächte wurde ein Balken gelegt und die dem Tod Geweihten wurden gezwungen, sich auf diesen Balken zu stellen. Kaum standen sie, wurden sie in die Grube hinabgestoßen. 

Als die Mörder am nächsten Tag zurück kamen und ihre Opfer immer noch am Leben fanden, warfen sie Steine, Bretter und brennendes Werg in den Schacht. Doch noch einige Tage lang hörten die Menschen aus dem Ort Kirchengesänge und Gebete aus den Tiefen nach oben dringen.

Gerade in Anbetracht dieser tragischen Lebensgeschichte stellt sich die Frage, wer ist der Katechon und wie gestaltet sich sein Scheitern in einer Welt, die sich nicht retten lassen möchte?

Wenn man ihn am Idealbild des christlichen Monarchen festmachen konnte, dann nur deswegen, weil diese ihr Amt als auf Jesus ausgerichtet und gegenüber Gott verantwortlich verstanden. Indem das Haupt des Staates christlich war, folgte das Volk nach. Man stelle sich vor, heute würde ein namhafter bundesdeutscher Politiker demonstrativ ein großes Kreuz offen  an einer Kette um den Hals tragen oder eine Verwandte unter Aufmerksamkeit der Medien ein Kloster gründen. Dem, was der Katechon ist, würde das recht nahe kommen.

Insofern könnte man die Großfürstin Elisabeth auch in diese Kategorie nehmen, obwohl sie nicht in die politische Entscheidungsfindung involviert war. Aber alleine dadurch, dass sie als politische Repräsentantin ihr Sein auf Christus ausrichtete, wirkte sie katechontisch, trotz der Tatsache, dass das über das Zarenreich hereinbrechende Chaos nicht mehr aufzuhalten war.

Katharsis

“Mein ganzes Bestreben ist immer den Willen Gottes in allen Dingen zu erkennen und zu befolgen, und zwar auf das Vollkommenste.” 

So die letzten Worte Kaiser Karl I. von Österreich-Ungarn (1887–1922) auf dem Sterbebett im Exil in Madeira, wo er völlig verarmt starb. Wäre nicht als Folge der Französischen Revolution Napoleon über Europa hereingebrochen, wäre dieser von der Welt vergessene Karl I. möglicherweise auch Kaiser des Heiligen Römischen Reichs geworden. Mit ihm starb, wenn man das so sehen möchte, nicht nur der letzte Kaiser Österreich-Ungarns, sondern auch der Kaiser dessen, was vom Heiligen Römischen Reich im Herzen Europas übriggeblieben war, nachdem Bismarck mit der Gründung des preußisch-protestantischen Reichs jedweden Rückbezug auf das Heilige Römische Reich zu unterbinden gesucht hatte.

Mit Kaiser Karl I., der 2004 von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen wurde, starb 1922 also nicht nur die Monarchie im Herzen Europas, sondern, so munkelten manche, auch Europa selbst. Denn der Krieg, der nun folgte, sollte den vorangegangenen in seiner Zerstörungswut nicht nur übertreffen und endgültig die Vormachtstellung Europas in der Welt beenden, sondern besiegelte im Gegenzug endgültig die militärische, wirtschaftliche und kulturelle Vormachtstellung der Vereinigten Staaten von Amerika, die als klare Sieger aus beiden Weltkriegen hervorgegangen waren.

Der letzte Kaiser strebte danach, wie wir gesehen haben, den Willen Gottes auf das Vollkommenste zu erfüllen. Der heutige Westen darf durchaus als das genaue Gegenteil dieses Ausrichtens allen Handelns auf Gottes Willen beschrieben werden. Die Umkehrung aller Werte ist totalitär geworden und die mit universellem Geltungsanspruch verkündeten westlichen Werte gleichen dem orwellschen: „Liebe ist Hass, Krieg ist Frieden, Armut ist Reichtum“.

Besonders eindrücklich wird diese Umkehrung anhand der Rede von der Demokratie deutlich. Unfreiwillig treffend formulierte dies der Schriftsteller Bernd Wagner im Januar 2007 im Deutschlandfunk Kultur:

„In seiner seit je prekären Existenz braucht der Mensch Gewissheiten, sucht er nach Konsens und von allen akzeptierten Vereinbarungen. In früheren Gesellschaften lieferte diese die Religion, in unserer hoffen wir sie im Begriff der „Demokratie“ zu finden.“

Die Regierungsform der Demokratie ist also längst nicht mehr nur eine Regierungsform. Sie bildet analog zu dem, was früher der Glaube als gemeinsames Bekenntnis war, Konsens und Gewissheit. Doch steht hinter diesem Hoffen auf die Demokratie mehr. So sagte Bundespräsident Steinmeier im März 2022 in der Tagesschau:

„Der Angst angesichts des Krieges auch in Deutschland könnten die Menschen […] den Glauben an Freiheit und Demokratie entgegensetzen.“

Wurde früher in Kriegszeiten Gott angerufen und war die Religion Hoffnung und Stütze, so hat diese Rolle heute der Glaube an die Demokratie und damit der Staat übernommen. „Staat ist Religion“ könnte man im Sinne Orwells sagen, denn die Demokratie ist für den westlichen Menschen zu einem Glaubensbekenntnis geworden, möchte er nicht zu den „Feinden der Demokratie“ und somit zu den gesellschaftlich Ausgestoßenen gehören.

Die Demokratie wird hierdurch jedoch zu mehr gemacht, als sie eigentlich ist, nämlich nicht mehr nur eine Regierungsform unter vielen zu sein, sondern sie wird von denen, die den Glauben an sie verkündigen, zu etwas stilisiert, das mit Demokratie im Sinne einer Volksherrschaft nicht mehr viel zu tun hat.

Indem nämlich die Demokratie zum Götzen in der Hand einer kleiner Riege von Berufspolitikern und Medienschaffenden wurde und die Rolle der Religion übernahm, wurde die Macht gleichzeitig dem Volk entzogen, dem nun die Massenmedien nicht nur geschickt die Themen vorgeben, über die gesprochen wird, sondern auch, wie diese Themen zu bewerten sind. 

Dadurch, dass die Massenmedien aber in endloser Folge Themen wie „menschengemachter Klima-wandel“, „Corona Pandemie“ oder „Geschlechtsumwandlung“ aufs Parkett bringen, wird die Demokratie zur Farce. Denn diese Themen sind im eigentlichen Sinn künstliche Themen, von denen wir in der Regel überhaupt nichts wüssten, würden sie nicht beständig im Fernsehen wiedergekäut. So hätten z. B. die meisten jungen Menschen, die hormonell und chirurgisch  das „Geschlecht wechseln“, überhaupt nichts von diesem „Lösungsansatz“ für typische Pubertätsprobleme gewusst, hätten die Massenmedien diesen nicht in Dauerschleife vorgegeben. 

Im Zuge dessen wurde auch der demokratische Meinungsbildungsprozess ausgehebelt, da die Bürger über die Lösung von Problemen streiten, die sie gar nicht hätten, wären sie ihnen nicht durch das politisch-mediale Establishment vorgesetzt worden. Wahlen dienen in solch einer Postdemokratie nur noch als Stimmungsbarometer und Druckventil, da sich durch Neuwahlen nicht wirklich etwas an den künstlich geschaffenen Problemen ändert. 

Nach den Wahlen diskutieren einfach nur andere Politiker in den Talkshows über genau die gleichen Themen, die auch schon ihren Vorgängern so wichtig waren. Zwar bringen neue Gesichter vermeintlich frischen Wind, am Ende wird jedoch niemals wirklich ein Kurswechsel eingeleitet, der eine Reinigung des Westens von all seinen künstlichen Problemen mit sich bringen könnte. 

Die beiden Fragen also, die in dieser Zeit der zunehmenden Verwirrung gestellt werden dürfen, sind, ob es erstens in unserer heutigen, westlichen Welt noch einen Katechon gibt, der in der Lage wäre, das hereinbrechende Chaos aufzuhalten, und ob es zweitens für uns eine Hoffnung auf Reinigung gibt von all dem Aussatz, der sich in Form künstlich geschaffener Probleme auf uns gelegt hat.

Während die Antwort auf die erste Frage an dieser Stelle offen bleiben muss,  da ich sie nicht beantworten kann, gibt es auf die Frage nach der Reinigung in Matthäus 8,2–3 für jeden von uns die frohe Botschaft:

„Und siehe, ein Aussätziger kam heran und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen. Und Jesus streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach: Ich will‘s tun; sei rein! Und sogleich wurde er von seinem Aussatz rein.“

 

Der Katechon, die sakrale Wurzel der Monarchie und das Ende der westlichen Zivilisation